Gesprächsbedarf

von Erik Boß

Nach den Anschlägen in Paris, dem unsäglichen Erstarken der sogenannten Pegida-Bewegung und den eindrucksvollen Kundgebungen in Paris und Berlin scheint es mir wichtig, meine Gedanken zu den letzten Ereignissen zu sortieren.

Neue Flüchtlinge in Berlin
Ich meine, wir alle sind dazu verpflichtet, Menschen, die in Not geraten sind, in angemessener Weise zu helfen. Das gilt bei Unfällen, bei Naturkatastrophen und das gibt auch für Flüchtlinge, die ihre Heimat verlassen mussten. Dazu sind wir verpflichtet. Und diese Hilfe sollte selbstverständlich angeboten werden, nicht mit Widerwillen. Das kann nur, wer fähig ist, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Ohne Empathie kann es keine Hilfe geben. Ich denke, viele der aktuellen Hilfeverweigerer können diese Empathie nicht aufbringen. Empathie ist aber nicht nur ein sachliches Denken und Abwägen, dazu gehören auch Emotionen wie Mitleid und Anteilnahme. Wer dazu nicht fähig ist, braucht selber Hilfe, in der Regel professionelle.

Natürlich lässt sich die Frage nach der Hilfsbereitschaft nicht nur auf der Ebene von Einzelpersonen klären. Der Staat, unser Staat ist gefordert. Es sind immer auch politische Entscheidungen. Deren Grundlage sind dann nicht Empathie, sondern die Grundwerte unserer Gesellschaft, und die sind zuallererst im Grundgesetz festgehalten: Die Bundesrepublik ist ein sozialer Rechtsstaat, der Staat darf nicht unsozial handeln.



Mit dem Aufnehmen der Flüchtlinge allein ist es nicht getan. Der Gesetzgeber, gemeinsam mit den Bürgern, den Flüchtlingen und mit der Verwaltung, muss nach Wegen der sofortigen, aber auch der langfristigen Integration suchen. Einwanderung muss ein Teil des Alltags werden. Kriterien, wer bleiben darf, müssen gesellschaftsfähig durchgesetzt werden. Vor allem die Integration der Flüchtlingskinder muss viel besser organisiert werden, als dies bisher der Fall ist. Das kostet Geld, und man könnte darüber nachdenken, ob nicht Dax-Unternehmen und sogenannte Superreiche diese zusätzlichen Kosten aufbringen sollten, denn sie haben dieses Geld. Dax-Unternehmen könnten die Flüchtlinge zum Teil auch beschäftigen. Es ist wichtig, die Flüchtlinge vorrangig durch Arbeit und Ausbildung zu integrieren, und zwar gleich nach ihrer Ankunft.

Flüchtlingslager in der Nachbarschaft
Im Fernsehen sieht man immer wieder Menschen, die sich darüber beklagen, dass in ihrem Wohnumfeld Flüchtlinge untergebracht werden sollen. Ich schäme mich für diese Menschen. In viel ärmeren Ländern werden Zeltstädte für zehntausende von Flüchtlingen errichtet. Man wird den Hilfeverweigerern nicht mit Argumenten beikommen können. Wahrscheinlich ist in ihrem eigenen Leben so manches nicht in Ordnung, viele brauchen wohl selber Hilfe, auch materiell, aber auch in Form von Anteilnahme und Unterstützung.

In Berlin gibt es das Notaufnahmelager in Mariendorf. Ich selbst bin mit meiner Familie Ende der fünfziger Jahre dort durchgegangen. Wo hätten wir ohne dieses Lager denn hingehen sollen? Was damals selbstverständlich war, nämlich Flüchtlinge aufzunehmen, soll heute in Frage gestellt werden? Nicht mit mir.

Keine deutschen Kinder in einer deutschen Schulklasse?
Auf den sogenannten Pegida-Demonstrationen beklagen sich Teilnehmer, dass es Schulklassen gibt, in der kaum noch deutsche Kinder sitzen. Diese Demonstranten sind offensichtlich nicht aus Dresden. Und wenn doch, dann sind es sind Fernsehzuschauer, die wenig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.



Ich glaube, dass es in Deutschland bei sehr vielen Menschen eine unterschwellige Ausländerfeindlichkeit gibt, und zwar seit vielen, vielen Jahren. Und es gibt Aktivisten, die es bei ihrer aggressiven Meinung nicht belassen, sondern die selber Hand anlegen. Im Münchener NSU-Prozess werden gerade die mörderischen Aktivitäten dieser Ausländerfeinde verhandelt. Ich würde mich schämen, auf eine Demonstration zu gehen, wo Aktivisten und Sympathisanten dieser Mörderszene nicht nur anwesend sind, sondern die diese Pegida-Bewegung forcieren.

Soziales Verhalten muss erlernt werden
Ich glaube, wir Menschen sind von Natur aus gar nicht so nett. Faires Verhalten muss mühsam erlernt werden, in der Familie und in der Öffentlichkeit. Zuerst als Kleinkind, als Schulkind, später in der Ausbildung und im Beruf: Überall Konflikte, die besprochen werden müssen. Ich denke, dass die bürgerliche Gesellschaft, in der wir leben, in der Fähigkeit zur Austragung von Konflikten schon recht weit ist. Aber dieser Entwicklungsprozess erfährt immer wieder neu Strömungen, andere, neue Konflikte entstehen und neue Formen der Konfliktlösung müssen erlernt werden.

Vielen ist das zu mühselig. Sie wollen oder können keine Konflikte lösen, konstruieren vermeintlich einfache Lösungen (am populärsten sei hier der Wunsch genannt, eine Konfliktpartei möge doch bitte gehen) oder delegieren die Konfliktlösung an andere.



Die wichtigsten Personen, welche die Muster von Konfliktlösungen schaffen, sind die Eltern. Viele von denen sind selbst kaum fähig, konstruktiv mit Problemen umzugehen, kein Wunder, dass ihre Kinder es schwer haben. Dann kommt schnell der Ruf nach der Schule, möge doch dort eine anständige Erziehung stattfinden. Damit ist die Rolle der Schule überfordert, jedenfalls zur Zeit. Perspektivisch muss sich die Aufgabe der Schule daher ändern – weniger Lernstoff zugunsten von mehr Angeboten zum sozialen Kompetenzerwerb. Konfliktfähigkeit sollte ein Schulhauptfach werden, genauso wichtig wie Deutsch und Mathe.

Verletzte religiöse Gefühle
Manche Muslime sagen, die französischen Zeichner, die jetzt grausam umgebracht wurden, hätten ihre religiösen Gefühle verletzt. Mich ärgern solche Sätze, weil in ihnen die Erwartung ausgedrückt wird, es sei nicht nötig, sich mit Andersdenkenden auseinandersetzen zu müssen. Ich bin richtig und du bist falsch. Wer so denkt, ist ebenfalls konfliktunfähig. Auf der weltlichen Ebene gäbe es dafür sicher Möglichkeiten der Veränderung und Annäherung. Wer aber so spricht, ist im Käfig der Religion gefangen und kann Toleranz allenfalls vorspielen, aber nicht leben.

Mich ärgern solche Sätze auch, weil wir gesellschaftlich eigentlich schon weiter waren. Ende des 19. Jahrhunderts wurden Gedanken gesellschaftsfähig, dass alle Religion letztendlich nichts anderes ist als die Vorstellungen von Menschen. Die Menschen erfinden ihre Götter und deren Gebote, nach denen die Menschen dann leben. Also sind auch die Gebote vom Menschen erdacht und gar nicht göttlich. Im Mittelalter ist man für solch ketzerische Gedanken getötet worden, im 19. Jahrhundert wurden sie gesellschaftsfähig.



Nicht umsonst gibt es seitdem eine Trennung von Kirche und Staat in Europa. Religion ist Privatsache, und das ist auch gut so. Die einen gehen ins Kino, andere ins Theater und andere in die Kirche. Jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden, sagte schon der alte Preußenkönig. Manche Muslime sind noch nicht so weit, dies zu akzeptieren. Das ist dann so ein neues Konfliktfeld für die bürgerliche Gesellschaft, damit müssen wir uns auseinandersetzen.

Gewalt gegen Juden
Vor ein paar Wochen war ich in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. Auf dem Außengelände konnte ich sehen, wie die Schüler einer jüdischen Schule von der Polizei eskortiert wurden, als sie zum Sportunterricht gegangen sind. Das hat mich damals erschreckt. Jetzt aber, nach den Morden im Pariser Supermarkt, erschreckt es mich noch mehr.

In Deutschland müssen wir umdenken. Früher ging hier der Hass gegen die Juden von Deutschen aus. Deren Kinder und Enkelkinder, also wir heute Lebenden, sind auf Versöhnung und Wiedergutmachung bedacht, jedenfalls die meisten. Der Hass gegen Juden und die Gewalt kommt heute aus dem Nahen Osten, dort wird dem Staat Israel das Existenzrecht abgesprochen, und die Spur der Gewalt gegen Juden zieht sich immer mehr in die europäischen Staaten.



Es dürfte klar sein: Die Attentäter von Paris waren paranoide Kleingeister, denen wäre mit Argumenten nicht beizukommen, solche gefährlichen Menschen müssen rechtzeitig vom Staat weggeschlossen werden, damit sie in der Öffentlichkeit keine Schäden anrichten können. Leider scheint es, als gäbe es noch viele von ihnen. Schwere Zeiten stehen uns bevor.

Ich bin aus der Generation, die nach dem zweiten Weltkrieg geboren wurde. Lange Zeit kannte ich nur Frieden, ich dachte wirklich, die Zeit der Stigmatisierung und der Verfolgung von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen sei vorbei. Jetzt ist die Gewalt in den europäischen Metropolen angekommen und nicht nur ich muss mich neu orientieren und nach Lösungen suchen, auch praktischen. Ob das Auswirkungen auf meine zukünftigen Fotos haben wird, kann ich jetzt nicht sagen. Alles ist offen.

Die Fotos für diesen Beitrag habe ich meinem Archiv entnommen. Nächste Woche gibt es dann wieder neue Aufnahmen.

Vielen Dank für euer/Ihr Interesse an meinem Foto-Blog.
Erik Boß

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