Weltkummer Wachstum: Vom Mehrwert zum Nährwert

von Erik Boß

Bildungsurlaub-Seminar bei ARBEIT UND LEBEN in Tegel

Foto: Deutscher Bundestag - (c)2019

Die Bilder sind auf dem Weg zum Veranstaltungsort in Tegel entstanden:

Im Dezember war es mir möglich, mich eine Woche lang von meiner Erwerbsarbeit freistellen lassen. Ich habe Bildungsurlaub genommen und ein Seminar besucht mit dem Titel „Weltkummer Wachstum: Vom Mehrwert zum Nährwert“. Das Seminar fand in Tegel statt und ich hatte einen anderen Fahrtweg als üblich. Meine Fotos zeigen Ausschnitte aus diesem Weg, und sie haben zugleich einen inhaltlichen Bezug zum Seminargeschehen, über das ich hier im Foto-Blog ausnahmsweise einmal sprachlich berichten möchte.

Veranstalter des Bildungsurlaubs war ARBEIT UND LEBEN Berlin-Brandenburg, eine Bildungsvereinigung des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB. Im Wesentlichen gab es im Seminar Vorträge von eingeladenen Experten mit anschließender Aussprache. Das erforderte sehr viel Konzentration, vier jeweils anderthalbstündige Einheiten täglich enthalten eine Menge Stoff. Daneben gab es Exkursionen zu Organisationen, die sich im Umweltbereich engagieren. Moderiert und geleitet wurde das Seminar von dem Tandem Sophia Bickhardt und Christian Scholz Alvarado, die das mit ruhiger Hand Klasse gemacht haben. Im Vorfeld hatten sie in aufwändiger Vorbereitung das Programm strukturiert und die Referentinnen und Referenten eingeladen.

Am ersten Seminartag kam Dr. Gregor Hagedorn. Er ist Wissenschaftler am Museum für Naturkunde, Mitbegründer von „Scientists for Future“, die „Fridays for Future“ wissenschaftlich beraten. Im Raum stand die Frage nach dem Ausmaß der Klimakatastrophe. Die beunruhigende Antwort: Der Klimawandel ist real. Die Erderwärmung hat global gefährlich zugenommen. 2015, 2016, 2017 und 2018 waren weltweit die vier wärmsten Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Das Ansteigen der Temperatur macht das Wetter nicht nur wärmer, es wird extremer. Stürme, Waldbrände, Dürren (auch in Deutschland) machen den Menschen zu schaffen. Dramatisch ist die Situation auch deshalb, weil es Situationen gibt, die unumkehrbar sind. So wie eine Zimmerpflanze, die vertrocknet ist, nicht mehr zu retten ist, gibt es weltweit Ereignisse, die zu kippen drohen. Kippeffekte. Dazu gehören die Korallenriffe, das arktische Eis, der Amazonas-Regenwald. Die Folge ist nicht nur ein unwiderruflicher Verlust an Populationen, sondern eine weitere Verschärfung der Klimakrise.

Ursache für die Erderwärmung ist der zunehmende CO2-Gehalt in der Luft. CO2 ist ein Gas und wirkt wie die Glasscheibe eines Gewächshauses: Das Licht der Sonne fällt auf die Erde. Ein Teil wird von dort als Licht und Wärme wieder ins All zurückgeworfen. CO2 absorbiert einen Teil der von der Erde in das Weltall abgegebenen Wärme und strahlt diese Wärme zurück auf die Erde. Eigentlich eine gute Sache, denn durch diesen natürlichen Treibhauseffekt entsteht auf der Erde ein gemäßigtes Klima, welches Flora und Fauna gedeihen lässt. Nimmt allerdings der CO2-Gehalt der Luft zu, so wie in den letzten Jahrzehnten, wird es immer wärmer auf der Erde. CO2 entsteht unter anderem durch die Verbrennung von fossilen Brennstoffen wie Erdöl, Erdgas oder Kohle und beim Verbrennen von Holz. Im Zuge der Industrialisierung hat der CO2-Ausstoß dramatisch zugenommen.

Unsere Welt leidet nicht nur an CO2, sondern auch an Plastikmüll. Plastik verschmutzt auch die Meere und gefährdet die Fische. Über die Nahrungskette gelangen Plastikpartikel in den menschlichen Organismus. In Deutschen Gewässern geht die Verschmutzung vor allem von Touristen aus, in anderen Staaten wird der Müll bis heute einfach ins Meer gekippt. Ein Exkursion während des Seminars hat uns zum Nabu (Naturschutzbund Deutschland) geführt, wo uns Lisann Sander neben den schlimmen Fakten auch Initiativen vorstellen konnte, diese Meeresverschmutzung einzudämmen, etwa indem Fischer erfolgreich dafür sensibilisiert wurden, Müll aus ihrem Fang nicht wieder ins Meer zurückzuwerfen, sondern an Land zu bringen.

Unser Seminar ist nicht bei der Frage der physiologischen Bedrohung unserer Lebensgrundlagen stehen geblieben. Wir wollten wissen, welchen Zusammenhang es gibt zwischen der Erderwärmung, der Plastikflut und der Art und Weise, wie wir leben. Uns interessierte die Frage, welche Rolle die kapitalistische Produktionsweise beim Klimawandel spielt. Hier wurde uns von Anil Shah, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kassel, in seinem Referat der Begriff der „imperialen Lebensweise“ erläutert.

Bekanntermaßen liegt der Kritik am Kapitalismus der moralische Wert der Gerechtigkeit zugrunde, es ist eine Empörung über die Ungerechtigkeit, die dieses System erzeugt. Reichtum für wenige, Armut für viele. Auch das Konzept von der „imperialen Lebensweise“ greift diese Ungerechtigkeit auf: Um ein komfortables und modernes Leben mit seiner dauerhaften Verfügbarkeit von Konsumgütern zu ermöglichen, müssen Menschen in aller Welt hart arbeiten, Bodenschätze abbauen und Tiere schlachten. Dies in einem Ausmaß, das an die ökologischen und sozialen Grenzen der Erde stößt. Die „imperiale Lebensweise“ ist imperial, weil sie bestimmten Gruppen einen übermäßigen Zugriff auf Ressourcen ermöglicht, ihnen großen Wohlstand bringt. Für andere dagegen hat die „imperiale Lebensweise“ diverse negative Folgen, verursacht unendlich viel Leid und Zerstörung. Die imperiale Lebensweise verhindert ein gutes Leben für alle.

Das Konzept der „imperialen Lebensweise“ geht noch weiter: „Die imperiale Lebensweise macht auch vor der eigenen Person nicht Halt und gipfelt in dem Bedürfnis vieler Menschen nach permanenter Selbstoptimierung. Damit ist nicht nur das Karrieredenken im Sinne höherer Einkommen und Positionen gemeint, sondern auch die steigende Effizienz in Beruf und Freizeit als Selbstzweck. Auch die gesellschaftliche Auffassung, dass die Verantwortung zunehmend ausschließlich beim Individuum liegt – und nicht beim Unternehmen oder beim Staat – treibt diese Entwicklung voran: Ungerechte Wirtschaftsweisen hängen dann allein damit zusammen, dass die Individuen nicht ethisch korrekt einkaufen. Und wer zum Beispiel krank ist, leidet nicht an den Folgen seiner Erwerbsarbeit (oder hat einfach Pech gehabt), sondern ist selbst schuld, weil er*sie zu ungesund isst, nicht genügend meditiert oder zu wenig Sport treibt (um sich von den Folgen der Arbeit zu erholen).“ (Auf Kosten anderer? Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben für alle verhindert, München 2017)

Die „imperiale Lebensweise“ durchdringt unseren Alltag vollständig. „Sie zieht sich durch Produktionsprozesse, Gesetze, Infrastrukturen, Verhaltensweisen und sogar durch unsere Denkmuster. So erwarten wir von Frühling bis Winter exotisches Obst im Supermarkt und können innerhalb kürzester Zeit per Mausklick über Amazon, Zalando, foodora und Co fast jedes erdenkliche Produkt nach Hause geliefert bekommen. Darüber, wo es herkommt und wie es produziert wurde, müssen wir uns keine Gedanken machen. Wir können uns ein Leben ohne Smartphone nicht mehr vorstellen. Dabei werden sie meist unter ausbeuterischen Bedingungen und staatlicher Repression produziert. Auch gehen wir selbstverständlich davon aus, dass sich irgendjemand um ältere Menschen kümmert. Diese Sorgearbeit aber erledigen nicht selten migrantische Fachkräfte zu miserablen Arbeitsbedingungen.“ (ebd.).

Ich habe hier mal aus dem genannten Buch zitiert, weil es mir schwerfällt, dies gebündelt in eigene Worte zu kleiden. Auf jeden Fall wurde früh im Seminar klar, dass es sich bei der Bewältigung der Klimakrise nicht nur um ein technisches Problem handelt, das irgendwie in den Griff zu bekommen ist, sondern mit der Art und Weise, wie wir leben. Müssen wir unser Leben ändern? Unser ganzes Leben?

Im Referat von Andrea Vetter wurde diese Frage aufgegriffen, sie möchte wissen, ob es möglich ist, nachhaltig zu wachsen. Sie arbeitet mit den Begriffen Degrowth und Postwachstum. Ihre Antwort ist eindeutig: Es geht nicht darum, ob wir uns vom Wachstum verabschieden wollen oder müssen, sondern wie dies vonstattengehen soll. So wie ich es verstanden habe, sind beim Thema Postwachstum zwei Dinge wichtig, die eng zusammengehören: Zum einen gibt es eine Postwachstumstheorie, die stark akademisch geführt wird, zum anderen existiert bereits eine gelebte Praxis: Längst gibt es Hausprojekte, Ökodörfer, Lebensgemeinschaften, Kommunen, Wohngruppen, die Alternativen zum bestehenden Wirtschaften für sich gefunden haben. Es entsteht eine Postwachstums-Bewegung, deren Einfluss auf die Gesellschaft zunimmt.

Für viele Akteure der Postwachstumsbewegung ist ein gutes Leben für alle das Ziel, dies schließt auch solche Kriterien wie Entschleunigung und Zeitwohlstand und den Ausbau demokratischer Entscheidungsformen mit ein. Postwachstum ist eine Abkehr von rein technologischen Neuerungen und damit verbundenen Effizienzsteigerungen. Postwachstum orientiert sich an einer nachhaltigen Warenproduktion, an einem möglichst geringen Rohstoff- und Energieverbrauch, um die ökologischen Krisen unserer Zeit zu bewältigen. Die Postwachstumstheorie ist in ihrem Kern eine Kritik am gegenwärtigen kapitalistischen Wirtschaftsmodell und der Versuch, konkrete Utopien als Alternativen zum Wachstumsdiktat zu entwerfen. Es geht um eine grundsätzliche Umgestaltung der Gesellschaft.

Unser Seminar konnte bei einer Exkursion einen Einblick bekommen, wie so etwas im Kleinen funktioniert. Wir sind in den Prenzlauer Berg zu einer Foodsharing-Initiative in der Dunckerstraße gefahren. Mit Lastenfahrrädern werden dort wertige Lebensmittel eingesammelt, die sonst im Müll gelandet wären. Die Lebensmittel werden anschließend kostenlos verteilt. Die Initiative ist auch überregional gut vernetzt, hat einen professionellen Internetauftritt und arbeitet sehr erfolgreich.

Um uns ein wenig Luft angesichts der vielen Referate zu verschaffen, wurden wir in der Mitte des Seminars mit der Präsentation eines Films belohnt, zu der auch der Regisseur anwesend war. Gezeigt wurde der Film „Speed – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Florian Opitz. Ausgehend von der Wahrnehmung, dass unser Alltag immer hektischer und schneller wird, ist der Autor der Frage nachgegangen, woher dies kommt und ob es Möglichkeiten des bewussteren Umgangs mit der Zeit gibt. Ein Thema aus dem Film hat mich besonders beeindruckt: Die Nachrichtenagentur Reuters bietet kostenpflichtig Infos über die Veränderung von Börsenkursen in Echtzeit an. Wie reagieren Händler auf Kursschwankungen? Eine solche Überlegung ist Oldschool. Mittlerweile analysiert Computersoftware Kursschwankungen, und künstliche Intelligenz kauft und verkauft aufgrund der analysierten Informationen. Ich habe mich erinnert an den Begriff des „Casinokapitalismus“. Der Handel von Werten, die ursprünglich durch menschliche Arbeit entstanden sind, hat sich von der Produktion entkoppelt. Es entsteht eine künstliche Blase, und, wie wir inzwischen wissen, kann diese Blase platzen und ganze Volkswirtschaften gefährden. Beim Thema Entschleunigen zeigte der Film nach einigen Extremen (ehemaliger Unternehmer wird Aussteiger, Leben auf der Alm abseits der Zivilisation) zum Abschluss ein schönes Bild, wo sich Eltern mit ihrem Kind auf dem Spielplatz ganz zwanglos die Zeit vertreiben.

Ein besonders Highlight des Bildungsurlaubs war die Exkursion zur Tageszeitung (taz). Die taz macht nicht nur kritische journalistische Arbeit, sondern ist auch ein interessantes Wirtschaftsmodell. Sie ist eine Genossenschaft, sie ist im Besitz ihrer Leserinnen und Leser. Wir durften mit unserer Gruppe an der morgendlichen Redaktionssitzung teilnehmen. Hier werden die Schwerpunkte für die nächste Ausgabe besprochen. Es war interessant zu beobachten, wie sachlich und wertschätzend die Redakteure miteinander umgehen.

Im Anschluss an diese Sitzung stand uns die Wirtschaftsredakteurin Ulrike Herrmann für eine Aussprache zur Verfügung. Hier kam ein Aspekt zur Sprache, der im bisherigen Seminarverlauf noch nicht Thema war: Was kann eigentlich der Staat tun angesichts der Klimakrise? In diesem Zusammenhang hat Frau Herrmann einen für mich wichtigen Begriff benannt: Hilflosigkeit. Es ging um den grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, der einen Konflikt hat zwischen den umweltpolitischen Zielen seiner grünen Partei und der Realität einer starken Automobilindustrie in seinem Bundesland. Frau Herrmann nennt ihn hilflos. Es zeigte sich, dass auch unsere Seminargruppe und selbst Frau Herrmann hilflos sind angesichts der anstehenden Aufgaben. Und diese lautet: Wie kann ein Transformationsprozess aussehen, der sich von kapitalistischer, umweltzerstörender Produktion wandelt hin zu einer Lebensweise, die ein angenehmes Leben für alle ermöglicht? Was kann der Staat tun, kann er Einfluss nehmen auf die kapitalistische Produktionsweise?

Am selben Tag, wo wir die taz besuchten, hat sich diese Zeitung ebenfalls mit der Wachstumsproblematik auseinandergesetzt. Anlass war der sogenannte „Green Deal“ der neuen EU-Kommission, welche die Klimakatastrophe durch grünes Wachstum verhindern will. Das Blatt meint zwar anerkennend, dass die EU hier eine Menge vernünftiger Vorhaben ankündigt, etwa eine CO2-Steuer oder ein Recht auf Reparatur von IT-Geräten. Aber der Entwurf aus Brüssel sei auch deprimierend, weil er auf der Lebenslüge unserer Gesellschaft aufbaut. „Die Sache ist ganz einfach: Wir verbrauchen zu viel Energie und zu viele Rohstoffe, und wenn die Energie erneuerbar ist und die Rohstoffe recycelt sind, ist das immer noch so. Weil auch jedes Windrad Natur wegnimmt, jedes Elektroauto auf Asphalt fährt und auch die Herstellung recycelter Rohstoffe enorme Mengen Energie verbraucht.“ (taz vom 12.12.2019). Statt wie bisher auf Wachstum zu setzen, hätte nach Auffassung der taz die EU-Kommission folgendes formulieren sollen: „Das Paradigma des ewigen Wachstums hat den Planeten in eine existenzielle Krise geführt. Die EU wird der erste Wirtschaftsraum, der damit bricht.“ (ebd.)

 Das Thema Wachstum und Klima geht weiter, jeden Tag. Inzwischen wurde von der Bundesregierung der Ausstieg aus der Kohle beschlossen, aber viel zu langsam, viel zu ineffektiv, mal wieder. Ich vermute, erst durch die sinnliche Wahrnehmung der trockenen Sommer in den letzten beiden Jahren in Verbindung mit den damit verbundenen nachhaltigen Schäden und den Protesten von Fridays for Future ist das Bewusstsein des Klimawandels in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Politik, Wirtschaft, aber auch jeder Einzelne ist jetzt aufgefordert, sich mit diesem Themenkomplex zu befassen, sich mit der Zukunft unseres Planeten zu befassen, nicht nur mit der eigenen individuellen Zukunft oder der Zukunft seiner Partei oder seines Wirtschaftsunternehmens. In diesem Sinne: Fridays for Future, Saturdays for Future, Sundays for Future, Mondays for Future … Und dabei nicht vergessen: wie bekommen wir eine Transformation hin zu einer Gesellschaft, die wirtschaftlich nicht unbedingt wachsen muss und deren Ziel ein gutes Leben für alle ist. Und was heißt das eigentlich: Ein gutes Leben?

Vielen Dank für euer/Ihr Interesse an meinem Foto-Blog.
Erik Boß

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